Goethe Institut E - motion Joint Artists
Rede zur Ausstellungseröffnung Gerd Rehse

Von Hartmuth Schröder


Vorweg

Es gibt wohl nur wenig künstlerische Projekte, deren Beginn unter einem so günstigen Stern standen, wie die fotografischen Arbeiten, die uns Gerd Rehse heute hier zeigt.

Ich erinnere mich noch genau: Unser Zentralgestirn stand hoch am südlichen Himmel über dem provencalischen Bergdorf Callien. Ich sehe in einen sonnendurchfluteten Garten, in dem ein altes unbewohntes Haus steht, und ein Ball liegt ahnungslos im Gras... Doch wie dann das schöne Verhängnis - die Geburtsstunde von E-Motion - seinen genauen Lauf nahm, könnte nur er selbst uns erzählen.

Jedenfalls: Das alles liegt nun einige Jahre zurück, und was so unbeschwert begann, ist im Laufe der Zeit doch in erhebliche Arbeit ausgeartet, eine Arbeit, zu der ich Gerd Rehse bereits an dieser Stelle ausdrücklich beglückwünschen möchte. Eine Arbeit übrigens, die nur schwer in fotografische Kategorien zu fassen ist.

Zunächst gilt festzustellen: Hinter Gerd Rehses fotografischem Projekt E-Motion steht eine Idee, und dieser Idee hat er eine Form gegeben. Und diese Idee und diese Form sind mit hoher Konsequenz umgesetzt und durchgehalten worden. Ich betone dies zu Beginn meiner Ausführungen deshalb, weil diese Hartnäckigkeit, ja bisweilen Sturheit, die für projekthaftes künstlerisches Arbeiten nötig ist, oft die meiste Kraft verschlingt.

Wie ist Gerd Rehse nun bei seiner Arbeit vorgegangen?

Bis auf zwei Ausnahmen - den anfangs erwähnten ideengebenden Versuchen damals in Südfrankreich - sind alle Bilder in einem weiß gestrichenen Raum entstanden. Der Hintergrund ist so ausgeleuchtet worden, dass keinerlei Grauton die differenzierten Grauwerte der sich bewegenden Personen stören könnte. Die Kleinbildkamera stand - montiert auf einem Stativ - an immer derselben Position. Gerd Rehse benutzte als Aufnahmeobjektiv eine sogenannte Normalbrennweite - sprich: ein 50mm Objektiv - bezogen auf das Format 24x36 mm und erfasste damit einen Bildwinkel, der ungefähr dem des menschlichen Seheindrucks entspricht, wenn wir geradeaus blicken und auf unendlich fokussiert haben.

Der Aktionsraum für die Person war vom Fotografen deutlich definiert. Klar war aber auch, dass der Tennisball, der in unregelmäßigen Abständen von einem Assistenten auf die Person "abgefeuert" wurde, nicht wirklich treffen sollte: Die Bedrohung war also nur imaginär.

Um die Personen "in Bewegung" zu zeigen, war eine Vordergrundbeleuchtung nötig, die Belichtungszeiten (bei notwendiger Blende) von einer 1/15 bis 1/2 sek. erlaubte, bezogen auf ein Schwarzweißfilmmaterial niedriger Empfindlichkeit.

Wenn ich diese Arbeitsweise Gerd Rehses bis zu diesem Punkt so ausführlich beschrieben habe, so hat das zwei Gründe:

Zum einen erinnert mich diese Vorgehensweise an die bis in die sechziger Jahre reichenden Lungenreihenuntersuchungen der staatlichen Gesundheitsämter, zu denen alle Bürger in einem zweijährigen Rhythmus aufgefordert waren. In den Ohren klingt mir noch dieses: ruhig atmen - nicht atmen und (nach einigen Sekunden) - jetzt weiteratmen. Auf diese Weise sind abermillionen von Röntgenbildern entstanden: temporäre Dokumente aus dem Leben von abermillionen Bürgern dieses Landes. Temporäre Dokumente aus dem Leben von Menschen - hier: Reaktion auf eine imaginäre Bedrohung - sind für mich die heute gezeigten Fotografien von Gerd Rehses.

Und damit steht zum anderen diese Arbeitsweise, die weder kommentiert noch interpretiert, sondern im besten Sinne darstellt, in der Tradition der fotografischen Schule Bernd und Hilla Bechers, deren konzeptionelle und nach streng festgelegten Grundsätzen bearbeiteten Fotodokumentationen systematisch bestimmte "Sach-Verhalte" untersuchen.

Doch während bei den Bechers Themen der Architektur Gegenstand der Untersuchung sind, haben wir es bei Gerd Rehses Bildern mit Menschen zu tun. Menschen, allein in einem Raum, die sich - wenn auch freiwillig - einer unkalkulierbaren imaginären Bedrohung aussetzen, die es - und ich kann dies ja aus eigener Erfahrung sagen - einem unmöglich macht, das eigene Verhalten zu kontrollieren und zu steuern.

Hatte ich selbst zu Beginn der Aufnahmen noch gedacht, die Situation "im Griff" zu haben oder zumindest in eine von mir gewünschte Richtung lenken zu können, so war ich bei der Durchsicht des Bildmaterials überrascht und erschrocken zugleich, wie unbewusst - und noch schlimmer - wie "typisch" meine Reaktionen waren. Da ich nun so ziemlich das komplette Bildmaterial der hier ausgestellten Personen gesehen habe, kann ich ihnen versichern, dass dies für alle gleichermaßen gilt:

Der Rahmen individueller Verhaltensmuster ist eng. Gerd Rehses Fotografien "bringen dies ans Licht", kollektiv wie für den Einzelnen.

Insoweit berühren diese Bilder, die uns bisweilen an Arbei-ten des irischen Malers Francis Bacon denken lassen, auch das Genre der Portraitfotografie, wenn wir - im doppelten Sinn - vom lateinischen Ursprung des Wortes ausgehen: Portrait = ans Licht bringen. Von Charles Baudelaire stammt die Aussage: "Ein gutes Portrait erscheint mir immer wie eine dramatische Biographie oder vielmehr wie das einem Menschen innewohnende Naturrecht."

Eigentlich ist es schade, dass wir nicht das ganze Bildmaterial zu sehen bekommen. Allein: Dies würde den Rahmen einer solchen Ausstellung sprengen. Darüber hinaus gab es aber gute Gründe für eine Bildauswahl. Gerd Rehses Darstellungsform, Menschen in Bewegungsunschärfe zu dokumentieren, liefert im Gegensatz zu "starren Fotos" viel Bildmaterial, das an das Thema Körperbehinderung hätte denken lassen. Und oft waren Gesichter zu extremen Fratzen verzerrt.

Um die Betrachter aber so wenig wie möglich vom Thema dieser Bildserie abzulenken, war eine strenge Auswahl nicht zu vermeiden. Gerd Rehse zeigt in seinen Fotografien menschliche Reaktionen, die für die Abgebildeten nicht immer angenehm sein dürften. Und das auch noch ausgestellt in einem öffentlichen Raum. Dennoch: Niemand der von ihm Fotografierten hat eine Ausstellung seiner oder ihrer Bilder verweigert. Dies spricht für das vertrauensvolle Ver-hältnis zwischen Fotograf und Fotografierten. Alle konnten sich bei ihm eines verantwortungsvollen Umgangs mit den Bildern sicher sein.

Die ausgestellten Arbeiten Gerd Rehses zeigen menschliche Reaktionen in Bewegung. Ebenso hätte er diese Momente auch mit einem Blitzlicht "einfrieren" können, wie dies in der sogenannten "street photography" - zum Beispiel bei Bruce Gilden - oft zu sehen ist. Dass Gerd Rehse dies nicht getan hat, ist Ausdruck seiner Intention. Ich interpretiere seine Vorgehensweise als Verweis auf das Temporäre menschlichen Handelns, auf das Vergängliche und auch auf das Veränderbare. Dies ist in einem Fall tröstlich, kann im anderen Fall aber auch Angst machen.

Die Bilder liefern uns keine Antworten, sondern beschreiben und stellen uns bestenfalls Fragen: nach dem wie, nach dem warum und nach dem wann. Anders als in einer Fotoarbeit Petra Scheers, die - unter dem Titel "Berlin, 1.7.1995 / 14.33h - Menschen in Bewegungsunschärfe vor dem verhüllten Berliner Reichstag "festhält" und damit die Erfahrung von Zeit untersucht, fehlt bei Gerd Rehses Bildern der Ort. Zu recht, wie ich finde. Das Universelle des Themas braucht diesen Ort nicht.

Die durch Bewegungsunschärfe in der Regel nicht identifizierbaren Gesichter befriedigen keinerlei voyeuristische Bedürfnisse. Die abgebildeten Menschen bleiben so seltsam anonym. Die Unschärfe erlaubt nicht den flüchtigen Blick, sondern schärft im Gegenteil die Wahrnehmung. Der Maler Gerhard Richter, für dessen Werk Unschärfe das zentrale Thema ist, beantwortet diese Frage Anfang der 70er Jahre: "Unschärfe ist für ihn (den Künstler) eine Möglichkeit der Aussage über unser Verhältnis zur Wirklichkeit. Dies ist aber notwendig von Unsicherheit, Flüchtigkeit, Ausschnitthaftigkeit und eben Unschärfe geprägt."

Gerd Rehses Fotografien sind aber auch schön, selbst dort noch, wo Furcht die Reaktionen der Personen beherrscht. Diese Bilder erschrecken uns vielleicht, Angst machen sie aber nicht. Viele Bilder sind - je nach Temperament der Menschen - von einer ansteckenden Leichtigkeit, die uns - wohltuend im Format gestaltet - an einen Blick in eine Tanzwerkstatt denken lassen.

Und: Die Bewegung der Personen erzeugt "nebenbei" eine unerschöpfliche Vielfalt von Grauwerten. Auch dort, wo Mimik oder Gestik Angst ausdrücken, können wir die Schönheit dieser "Wischer in Grau" oder "hellschwarz", wie Samuel Beckett gesagt hätte, genießen. Der tschechische Schriftsteller Milan Kundera schreibt in einem Essay über Francis Bacon: "Fleischerläden sind grauenhaft, aber wenn Bacon davon spricht, vergisst er nicht anzumerken, dass (und hier zitiert er Bacon selbst) es für einen Maler da diese Schönheit der Farbe des Fleisches gibt."

Wenn ich zu Beginn meiner Ausführungen von der Schwierigkeit sprach, Rehses Arbeiten zu kategorisieren, so bin ich nun am Ende meiner Rede froh, zwar Aspekte seiner Arbeit beschrieben zu haben, aber die berühmten hilfreichen Schubladen nicht habe bemühen zu müssen. Ich finde seine Bilder perfekt, irritierend, leicht und bedrohlich zugleich.

Gerd Rehse, Jahrgang 1958, aus dem Weserbergland stammend, und heute beruflich in der elektronischen Datenverarbeitung eines großen hannoverschen Touristikunternehmens beschäftigt, bietet uns heute seine Arbeitsresultate an. Wir können uns bedienen.

Das Projekt E-Motion zählt nun schon zu den frühen Rehses. Mittlerweile hat er sein fotografisches Werk umfassend erweitert. Aber: Das Thema Unschärfe bleibt in seinen Arbeiten eine Konstante. Erwähnt sein hier stellvertretend sein Zyklus "Die Stadt vor deinen Augen". In cirka 2000 Fotografien hat Gerd Rehse hier seine Eindrücke von der täglichen Radfahrt zum Arbeitsplatz in - im doppelten Sinn - "bewegenden" Bildern dokumentiert. All dies ist für Sie gut einsehbar unter www.gerd-rehse.de zu betrachten.

Haben Sie, meine Damen und Herren, Dank für ihr geduldiges Zuhören. Die Ausstellung ist damit eröffnet.